Resilienz in der Lieferkette: Warum es jetzt einen Strategiewechsel braucht

February 15, 2024 Christian Maassen

In einer Welt, in der sich Risiken kontinuierlich intensivieren, wird die Resilienz der Lieferkette zunehmend zur Geschäftsresilienz. Dies verlangt nach einer robusten, vorausschauenden Strategie, die nicht nur Risiken identifiziert, sondern auch effektive Maßnahmen implementiert, um die Resilienz zu erhöhen.

Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, wie fragil globale Lieferketten sind und wie unzureichend vielerorts das entsprechende Risikomanagement ist.  Global haben Lieferketten während der COVID-19-Pandemie einen seismischen Schock durchlebt, welcher die Fragilität des vernetzten Ökosystems entblößte. Die Management-Systeme waren unvorbereitet auf die starken Schwankungen in der Verbrauchernachfrage, was die prekäre Lage noch verschärfte. Diese beispiellosen Störungen breiteten sich rasch über die Pandemie hinaus aus, wobei geopolitische Spannungen und die dringende Notwendigkeit der Emissionsreduktion zusätzliche Komplexität hinzufügten. Gleichzeitig sehen sich Unternehmen mit neuen gesetzlichen Anforderungen, wie dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz konfrontiert, die ihre Managementsysteme erneut auf die Probe stellen.

Während Unternehmen durch diese sich wandelnde Landschaft navigieren, ist es essentiell, die kritischen Risikobereiche innerhalb ihrer Lieferketten zu identifizieren, welche in diesem „Permakrise“-Szenario intensiviert wurden, und robuste Strategien zu entwerfen, um diesen zu begegnen. Es geht hier nicht mehr um theoretische Risiken, sondern um konkrete Herausforderungen, die den Unternehmen heute gegenüberstehen.

Risikotyp 1 - Schädigung des Markenrufs:

Moderne Sklaverei erreicht neue Höhen und zieht berechtigt erhebliche Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Stakeholdern auf sich. Bewaffnete Konflikte und Massenmigration verschärfen die Risiken der Ausbeutung vulnerabler Bevölkerungen. Zudem, mit der steigenden Überprüfung der Nachhaltigkeitsbemühungen von Unternehmen und Vorwürfen des „Greenwashing“, entsteht ein neues Risiko des „Greenhushing“ – einer nicht offenen Kommunikation von Unternehmen über ihre Umweltziele aus Furcht vor öffentlicher Kritik. Der Corporate Human Rights Benchmark zeigt auf, dass nahezu die Hälfte der größten globalen Unternehmen es versäumt, Menschenrechts- und Umweltprobleme in ihren Wertschöpfungsketten zu identifizieren oder zu adressieren. Dies könnte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass Risikomanagementprogramme oft „High-Spend“- oder „kritische“ Lieferanten priorisieren, während die Reputation nicht unbedingt mit dem Ausgabenvolumen korreliert.

Risikotyp 2 - Unterbrechungen der Lieferkette:

Wie das Risk Barometer 2023 von Allianz aufzeigt, bleiben Unterbrechungen und Störungen der Lieferkette bedeutende Risiken für Unternehmen. Unzufriedene Mitarbeitende kündigen vermehrt, wenn die Arbeitsbedingungen nicht den Forderungen nach sicherer Arbeit und angemessenem Lohn entsprechen. Die Volatilität bei Material-, Energie- und Transportkosten betont die Wichtigkeit von umweltfreundlichen Maßnahmen, wie der Nutzung erneuerbarer Energien und Recycling. Zahlreiche Zulieferunternehmen schließen oder Insolvenz anmelden, und diese Probleme intensivieren sich mit der aktuellen globalen Inflation.

Risikotyp 3 - Compliance-Verstöße und daraus resultierende Strafen:

Angesichts strenger werdender Vorschriften müssen Unternehmen höhere Compliance-Standards einhalten. Dies betrifft nicht nur die Umweltberichterstattung, sondern auch Arbeits- und Menschenrechte in der Lieferkette. Das Lieferkettengesetz und die zukünftige EU CSDDD sind Beispiele für eine legislative Entwicklung, die sich in den kommenden Jahren verstärken wird. Unternehmen müssen sicherstellen, dass Schlüssellieferanten diese Standards einhalten oder im Idealfall darüber hinausgehen, um Nachhaltigkeit zu fördern und Compliance zu erzielen.

Risikotyp 4 - Kosten-Volatilität:

Die Volatilität der Belegschaft und insbesondere der Energiekosten sind signifikante Risiken. Diese Risiken sind in vielen Kategorien omnipräsent und existieren auf mehreren Ebenen der Lieferkette. Eine unzureichende Vorbereitung kann zu Verfügbarkeitsproblemen und kostspieligen Schwankungen führen.

Resilienz der Lieferkette als Fundament der Geschäftsresilienz

Der Global Supply Chain Risk Report von WTT wirft ein aufschlussreiches Licht auf die Konsequenzen von Lieferkettenstörungen und die dringende Notwendigkeit des Aufbaus von Resilienz. Er zeigt, dass bei den über 800 befragten Unternehmen die Unterbrechungen einen erheblichen finanziellen Einfluss hatten, wobei fast zwei Drittel (65%) der Befragten höhere oder deutlich höhere Verluste in ihren Lieferketten in den letzten zwei Jahren als erwartet meldeten. Branchen mit komplexen logistischen Anforderungen, wie die Lebensmittel- und Getränkeindustrie (73%), die auf die rechtzeitige Lieferung verderblicher Waren angewiesen ist, und der Bereich der erneuerbaren Energien (74%), der sich mit dem Bau und Transport von großen und komplexen Objekten wie Windturbinen befasst, verzeichneten sogar noch größere Verluste.

Unternehmen ergreifen Maßnahmen zur Verbesserung der Resilienz, 65% haben Verbesserungen vorgenommen und weitere 18% haben ihre Lieferketten als Reaktion auf die Pandemie vollständig umgestaltet. Darüber hinaus planen 58% im kommenden Jahr erhebliche Änderungen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die Betonung der Zusammenarbeit, 53% betrachten sie als eine der größten Möglichkeiten zur Verbesserung des Supply Chain Managements.

EcoVadis‘ Sustainable Procurement Barometer 2021 unterstreicht die bedeutende Rolle, die Nachhaltigkeit beim Aufbau resilienter Lieferketten spielt. Bis zu 63% der Befragten auf Einkaufsseite und 71% der befragten Lieferanten gaben an, dass ihre Initiativen für nachhaltige Beschaffung entscheidend dazu beigetragen haben, die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie zu bewältigen. In der Gruppe der Sustainable Procurement Leaders – einem Kreis von Unternehmen, die fortschrittliche Tools und Ansätze in ihren Nachhaltigkeitspraktiken einsetzen – stieg dieser Wert auf 81%.

Unterdessen zeigen Erkenntnisse aus der 7. Ausgabe des EcoVadis‘ Business Sustainability Index Report, wie Unternehmen die Erkenntnisse der EcoVadis Plattform nutzen, um Risiken zu reduzieren und Resilienz in ihren Betrieben aufzubauen. Wenn man Nordamerika als Beispiel nimmt, waren 2018 fast die Hälfte aller bewerteten Unternehmen bei der Nachhaltigkeit auf einer teilweisen (25-44) Ebene oder darunter (basierend auf der Gesamtpunktzahl über alle ESG-Themen). Die untenstehende Grafik zeigt, wie durch mehrere Bewertungen über einen Zeitraum von fünf Jahren die Risiken gemindert wurden. 2022 sank der Anteil der Unternehmen auf der teilweisen Ebene auf 20%, und die Zahl auf der fortgeschrittenen Ebene hat sich verdreifacht.

Dies zeigt, dass Unternehmen, die an diesem Bewertungs- und Verbesserungszyklus teilnehmen, Fortschritte bei der Risikominderung machen. Aber für diejenigen, die noch nicht teilnehmen, besteht nach wie vor ein hohes Risiko, wie der Anteil derjenigen zeigt, die 2018 bei ihren Erstbewertungen im Bereich „teilweise/mittleres Risiko“ (43%) oder „ungenügend/ hohes Risiko“ (3%) lagen. Der Anteil der Unternehmen in diesen Risikobereichen ist in Regionen außerhalb Europas und Nordamerikas sogar noch höher. 

Zudem zeigt eine tiefere Betrachtung der Bewertungen zum Thema nachhaltige Beschaffung (SUP), dass fast drei Viertel (73%) der Einkaufsorganisationen in Nordamerika weiterhin im „Risikobereich“ verbleiben („ungenügende“ oder „teilweise“ Ebene des Managements). Betrachtet man spezifischer die SUP-Bewertungen für „große“ Unternehmen (über 1000 Mitarbeiter), bleiben sie trotz Umkehrung eines vierjährigen abnehmenden Trends 2022 weit mehr Risiken der Lieferkettennachhaltigkeit ausgesetzt mit einem Durchschnittswert von 38 im Vergleich zu europäischen Kollegen, die 7 Punkte höher bei 43 liegen.
 

Neukalibrierung des Risikomanagements: Ein Rahmen für Maßnahmen 

Da Beschaffungs- und Supply-Chain-Führungskräfte eine neue Schwelle zum Aufbau von Resilienz und Risikobereitschaft überschreiten, ist klar, dass Anpassungen vorgenommen werden müssen, um diese Verstärkungsfaktoren zu adressieren. Unternehmen können nicht endlos „Lieferanten austauschen“ oder auf die zweite/dritte/vierte Quelle zurückgreifen, und es stellt sich in jedem Fall die Frage, wie zukünftige Risiken minimiert – und die Quellen mit dem größten Resilienzpotential ausgewählt und entwickelt werden können. Der beste Kurs besteht darin, systematische Ansätze zur Identifikation, Minderung und Berichterstattung über ESG-Themen in Ihren Betrieben und der Lieferkette zu entwickeln. 

Die Unternehmen sind gefordert, unverzüglich zu handeln, um die vielschichtigen und komplexen Risiken zu managen, die ihre Lieferketten bedrohen. Dies verlangt nach einer robusten, vorausschauenden Strategie, die nicht nur Risiken identifiziert, sondern auch effektive Maßnahmen implementiert, um die Resilienz zu erhöhen. In der heutigen „Permakrise“ wird eine resiliente Lieferkette zur Überlebensvoraussetzung für Unternehmen.


Dieser Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht in "Procurement Update - Das Magazin zum Procurement Summit", Februar 2024. 

Über den Autor

Christian Maassen

Christian Maassen ist „Nachhaltigkeitsenthusiast“ und sorgt bei den Kunden von EcoVadis für Klarheit und Sicherheit über die Nachhaltigkeit ihrer Lieferkette. Fokus legt er dabei auf mittelständische Unternehmen in ausgewählten Industrien im D-A-CH-Raum.

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